Querschnittsdimension C: Rechtsbindung und emotive Grundlagen des Rechts

Die Frage, inwieweit Normen ihre Geltung und Akzeptanz auch auf Emotionen stützen können, stellt sich nicht allein für die Menschenrechte, sondern prinzipiell für das Recht im Allgemeinen. Geht man über die juristische Rechtsquellenlehre hinaus, die einen emotiven Geltungsgrund des Rechts mit Skepsis betrachtet, offenbart sich die emotive Durchdringung verschiedener Arten des „Rechtsglaubens“, aber auch eines Gerechtigkeitssinns, auf denen die soziale Geltung des Rechts in wesentlichen Teilen beruht. Im Übrigen lebt derzeit, vor allem in den USA, nicht nur die sozial¬wissenschaftliche Debatte über die faktische emotive Durchdringung des Rechts auf, sondern auch von juristischer Seite kommt der vielleicht unerwartete Ruf nach einer „Rechtsgefühlskultur“.
Die moderne Völkerrechtsentwicklung lebt namentlich im Bereich der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts (jus in bello) von emotiven Einflüssen, die weit über schlichte Empathie hinausreichen. Schon im Haager Kriegsvölkerrecht der vorletzten Jahrhundertwende rezipieren Begriffe wie „laws of humanity“ und „dictates of the public conscience“ (sog. Martens’sche Klausel) weithin emotiv geprägte Vorstellungen. Manche kühne Rechtsfortbildung durch internationale Gerichte (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte) lebt geradezu von der emotiv bestimmten Suggestivkraft des Einzelfalles. Welche Wertsensibilitäten benötigen wir aber, um bei der Etablierung globaler Normordnungen – jenseits eines diskreditierten Naturrechts und eines wertblinden Positivismus – Gerechtigkeitsgefühle zu mobilisieren, die zwar auf unterschiedlichen Konzeptionen von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Solidarität basieren mögen, die wir aber gleichsam benötigen, um aufzustehen, zur Welt Stellung zu nehmen, um ihr dadurch einen Sinn zu verleihen?
Eine weiter differenzierende Antwort auf diese Fragestellung setzt den Blick auf Wirtschaft, Politik und Gemeinschaft als jeweils kulturwissenschaftlich zu erfassende Tatbestände voraus. Insofern ließe sich jenseits der generellen Bedeutung von Emotionen im Recht ferner auch die Frage stellen, inwieweit sich Muster der emotiven Fundierung ausmachen lassen, die eher die politische, wirtschaftliche oder gemeinschaftliche Sphäre betreffen. Die emotiven Grundlagen des modernen Rechts im Globalisierungskontext zu thematisieren, bedeutet auch, über die Zivilisierung kollektiver Gefühle im Strafrecht hinauszugehen, um die affektive Aufladung des gesellschaftsfernen Rechts der transnationalen normativen Ordnungen zu diskutieren, deren Bindungsschwäche im Europarecht und auch im Humanity’s Law (R. Teitel) möglicherweise darauf beruht, dass wir ein empathisches Verhältnis zum Anderen, „Mitleid“ in Fernbeziehungen nur schwer entwickeln können. Welches didaktische und sensibilisierende Potenzial können dabei aber Formen der „Fernjustiz“ entwickeln – etwa Tribunale, die eine völlige Entmenschlichung der Welt zu richten hatten (und heute immer häufiger zu richten haben)?
Insofern geht es auch darum, die force du droit und Rechtsbindung als Variablen zu untersuchen, und zwar sowohl im ‚horizontalen‘ Kulturvergleich als auch hinsichtlich ‚vertikaler‘ Ordnungshierarchien: Freilich kann nicht mehr einfach vorausgesetzt werden, dass der klassische Nationalstaat der ‚natürliche‘ Bezugspunkt jedweder Rechtsbindung ist, wenn etwa gesellschaftliche Gruppen oder religiöse Gemeinschaften Geltung für partikulare Ordnungsvorstellungen beanspruchen und zugleich die auf Zugehörigkeit verweisenden staatlichen Rechtsnormen mit universellen Menschenrechten kollidieren mögen. Die Frage, inwieweit die jeweiligen Norminhalte dabei an Rechtsgefühle appellieren, steht also quer zu der hiervon zunächst unabhängigen Frage nach Nähe oder Distanz der rechtschöpfenden und rechtsprechenden Institutionen, und diese Fragen wiederum sind nicht allgemein, sondern nur unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen kulturellen Kontexte zu beantworten. Noch brisanter wird diese Frage vor dem Hintergrund von Individualisierungsprozessen, die heute mitunter mit einem zur „Selbstermächtigung“ tendierenden Gestaltungsanspruch einhergehen: So wird etwa der etablierte Diagnoseapparat medizinischer Expertise in Frage gestellt, um mithilfe des Internets einen eigenen Therapieansatz zu erstellen, und die Entscheidungskompetenz der politischen Gremien und Verfahren wird vom „Wutbürger“ selbst dort in Zweifel gezogen, wo sie demokratisch legitimiert ist. Unter diesen Bedingungen drängt sich auch die alte Frage nach der Rechtsakzeptanz auf, und dies umso mehr, wo sich mehr oder minder berechtigte Klagen über Legitimitätsdefizite in den Diskurs mischen, wie sie etwa aus struktureller oder funktionaler Überlastung der Rechtsorgane resultieren können.
Rechtsbindung lässt sich vor diesem Hintergrund zunehmend auch als eine Frage „repräsentativer Kultur“ deuten. Der Begriff soll hier Sinngehalte benennen, die einen Geltungsanspruch auch über die Gruppe ihrer sozialstrukturellen Träger hinaus erheben und – in welchen Grenzen auch immer – durchsetzen können. Kontrastierend stehen dem alle Kulturformen entgegen, die rein performativer Ausdruck einer bestimmten sozialen Gruppe sind und insofern unter dem Gegenbegriff sozialstrukturell „kongruenter Kultur“ gefasst werden können. Insofern eignet sich dieses Begriffspaar, den Gegensatz zwischen sozialen Normen von Gruppen und dem allgemeinen Gültigkeitsanspruch des Rechts zu benennen und mit dem Blick auf die Interferenz zwischen Normen und Recht die Frage nach der Bedeutung von Kultur für die Rechtsakzeptanz in einem neuen Licht beantworten zu können. Bislang wird in der Rechtssoziologie diese Frage bisweilen mit einem Hinweis auf die Funktion des Erzwingungsstabs gleichsam institutionell beantwortet, und zwar insbesondere dort, wo eine fortschreitende Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Rechtsgebieten und -normen die Distanz zwischen Recht und Lebenswelt mitunter dramatisch erhöht. Wo die Autorität von Polizei, Gerichten oder Strafverfolgungsbehörden im Allgemeinen in Frage gestellt wird und zudem durch die Internationalisierung der Rechtsfälle womöglich ein Legitimationsdefizit entsteht, verschärft sich die Frage nach der Anerkennung jenseits von Zwangsapparaten und verweist auf eine Vielzahl sozialer Bindungen, die durch Kongruenz von sozialen Gruppennormen und Recht Rechtsbindung garantieren – wo immer sie übereinstimmen.